Redebeitrag der IFK zur Abschlussdemo der Kurdistantage

Hier unser Redebeitrag zur Abschlussdemo der Zweiten Kurdistantage Dresden am 14. Oktober 2022:

Wir, die Initiative für Frieden in Kurdistan, haben uns im Herbst 2019 zunächst als Solikampagne gegründet, um auf die Angriffe auf Nord-Ost-Syrien zu reagieren und solidarisch an der Seite unserer kurdischen Genoss:innen zu stehen.
Im Zuge der Arbeit stellten wir immer mehr fest, dass die Revolution Rojava nicht nur schützenswert ist, sondern wir unglaublich viel von ihr lernen können. Die Themen dieser Revolution berühren viele Kämpfe, die auch wir und unsere Freund:innen hier führen, sie liefert uns Anstöße und praktische Erfahrungen zu Ökologie, Geschlechtergerechtigkeit, Zusammenleben und sozialen Fragen. Je länger wir uns mit ihr beschäftigen, umso faszinierter sind wir von dieser Revolution!

Einer der Kernpunkte unserer Arbeit besteht darin, die Erfahrungen und Lehren aus Rojava mit den Kämpfen hier vor Ort zu verbinden und eines unserer wichtigsten Werkzeuge dafür ist, uns und anderen immer wieder die Möglichkeit zu geben von ihr zu lernen.

Wir versuchen außerdem, die Ideen dieser Revolution auf diese lokalen Kämpfe anzuwenden. Die Auseinanderstzung mit diesen Ideen und Prinzipien kann und darf keine theoretische bleiben. Wir sehen es auch als unsere Aufgabe, diese Ideen zu leben und auf unsere eigenen Gruppen und Umfelder anzupassen und anzuwenden.

Was also können wir von der Revolution in Rojava konkret lernen?
Wir können lernen, dass man eine Gesellschaft zunächst verstehen muss, um sie zu verändern. Diese Veränderung kann aber nur gelingen, wenn wir uns selbst ändern, denn wir sind ein Teil dieser Gesellschaft. Uns selbst können wir aber nur ändern, wenn wir uns selbst kennen- und verstehen lernen.
Eine Revolution beginnt nicht, mit der oft erträumten Stunde Null. Die Revolution in Rojava hat nicht begonnen, als die Bevölkerung von Städten wie Kobane, die Schergen des Azad-Regimes vertrieb. Sie begann viele Jahre zuvor, denn eine revolutionäre Veränderung der Gesellschaft bedeutet zu allererst die Herausbildung revolutionärer Persönlichkeiten.
Uns selbst zu verstehen und zu ändern heißt, die Spuren der herrschenden Verhältnisse in uns und unseren Beziehungen zu erkennen, ihnen auf den Grund zu gehen und diese Spuren der Verhältnisse in uns zu überwinden. Ein entscheidendes Mittel dazu, das auch uns zur Verfügung steht, ist das Üben von Kritik und Selbstkritik. Dieser Vorgang ist nicht leicht. Er kann schmerzhaft und schwierig sein, aber er ist zwingend notwendig. Denn ohne ihn kann es keine Veränderung geben. Ohne ihn kippt jede Erhebung in die Regression und Aufstände führen nicht zu nachhaltiger Veränderung.
Das Üben von Kritik und Selbstkritik bedeutet auch, dass wir lernen müssen, Konflikte auszutragen, ohne an ihnen zu zerbrechen. Es bedeutet, Widersprüche auszuhalten, ohne sie in Feindschaft ausarten zu lassen und vor allem heißt es Diskussionen, Streit und Auseinandersetzungen wirklich zu führen, anstatt sich voneinander abzuspalten und auf Twitter oder sonstwo Kämpfe um Deutungshoheit zu führen, die außer uns selbst niemanden interessieren!

All das ist nur möglich, wenn es uns gelingt, Kritik nicht als Angriff zu verstehen und sie auch nicht als Machtinstrument zu missbrauchen. Eine solche Auseinandersetzung kann nur stattfinden, wenn der Kampf um Deutungshoheit, um gegenseitige Auf- und Abwertung einem ernsthaften Diskurs unter Genoss:innen weicht.
Die Basis dafür bezeichnet die Bewegung als “Hevalti” – Freundschaft und Genossenschaftlichkeit. Hevalti bezeichnet eine grundsätzliche Zuneigung, Verständnis füreinander, den Versuch das Gegenüber zu verstehen. Das Bewusstsein also, dass, so sehr wir unterschiedlicher Auffassung sind, so ernst unsere Konflikte auch sein mögen, wir zusammen stehen in einem Kampf gegen diese herrschenden Zustände!
Hevalti beinhaltet aber auch die Bereitschaft, wenn nötig zu kritisieren, Kritik als eine Chance zu begreifen, an ihr zu wachsen und einander besser zu verstehen.
Das bedeutet aber eben ganz ausdrücklich nicht, Widersprüche unausgesprochen zu lassen, um Beziehungen zu “schonen”. Im Gegenteil: Hevalti bedeutet auch Streit und Diskussionen. Hevalti bedeutet, dass mir mein Gegenüber anstrengende Diskussionen und inhaltlichen Streit wert ist. Hevalti bedeutet das Vertrauen, dass man sich uneinig sein kann, ohne sich zu hassen. Hevalti bedeutet eine Beziehung ohne Abwertung, ohne Machtausübung, ohne Geschacher um Diskurshoheit. Hevalti bedeutet: “Sich schwach zu zeigen, ohne Stärke zu produzieren”. Hevalti setzt Beziehungsarbeit voraus, denn dieses tiefe Vertrauen entsteht nicht einfach so.

Das revolutionäre Projekt in Rojava zeigt uns, dass Revolution aus revolutionär anderen Beziehungen entsteht. Es zeigt uns, dass die Vorbedingung für gesellschaftliche Veränderung, unsere eigene Veränderung ist. Die Revolution Rojava ist nicht einfach so passiert und wie alle Revolutionen wirft sie nicht von heute auf morgen alle bestehenden Verhätnisse um. Rojava ist eine lebendige Revolution mit vielen Widersprüchlichkeiten, Chaos und schwierigen Entscheidungen – es ist kein abgeschlossenes Projekt. Rojava ist das Produkt von jahrzehntelanger Bildungs-, Beziehungs- und Aufbauarbeit.
Als die lokalen gesellschaftlichen Bedingungen eine Revolte zuließen, war die emanzipatorische Bewegung bereit. Bereit, Gesellschaft konkret zu gestalten, bereit, Umstrukturierungen vorzunehmen und bereit, die nötigen Strukturen aufzubauen. Nur so konnten die Kämpfer*innen und die Gesellschaft das syrische Regime vertreiben, nur so konnte es ihnen gelingen, den sogenannten IS in die Knie zu zwingen.
Deshalb sehen wir auch heute mit Hoffnung in die kurdischen Gebiete des Iran und dürfen hoffen, dass freie Frauen auch das Mullah-Regime zu Fall bringen werden. Die Parole “Jin – Jiyan -Azadi” ist auch ein Versprechen: Die freien Frauen werden das Ende dieses Patriarchalen Scheiß-Regimes sein. Es wäre nicht das erste und es wird auch nicht das letzte sein, das fällt!

Was also können wir unternehmen, um dieser Veränderung für uns und unsere Beziehungen näher zu kommen?
Wir haben wärend dieser Kurdistantage unglaublich viel gelernt. Wir haben viele neue Menschen treffen dürfen, an vielen unterschiedlichen Orten in Dresden. Wir haben spannende Diskussionen erleben dürfen und viele neue Perspektiven dazu gewonnen. Wir glauben, es ist unschätzbar wichtig und wertvoll, die typischen, ausgetretenen Wege von Subkultur und Szene zu verlassen und sich gemeinsam mit verschiedensten Menschen weiterzubilden. Nicht zuletzt haben wir alle wirklich schöne Tage miteinander verleben können und nicht zuletzt das stärkt schließlich Kollektivität, Genossenschaftlichkeit und Verbindung zueinander.
Veranstaltungen wie diese sind sehr wichtig und wertvoll – aber natürlich können sie nicht alles bleiben. Wir laden also alle ein, die spüren, dass die Gesellschaft sich ändern muss, die spüren dass das hier noch nicht alles sein kann, die spüren dass zum guten Leben so viel mehr gehört als Konsum und Individualismus! Wir wollen mit all diesen Menschen mehr unternehmen, mehr lernen und uns gemeinsam weiterentwickeln. Wir wollen diskutieren, uns streiten und gegenseitig kritisieren! Wir wollen organisieren und neue gesellschaftliche Strukturen aufbauen – nicht morgen und nicht “nach der Revolution” sondern hier, lokal und jetzt!
Wir wollen bereit sein, wenn die Zeit reif ist, wie unsere Freund:innen in Rojava es waren. Bereit für eine Gesellschaft ohne Geschlechterunterdrückung und Patriarchat, eine Gesellschaft ohne Ausbeutung von Natur und Mensch, eine Gesellschaft ohne Staat und Kapital, gleichberechtigter und freier Menschen – eine Gesellschaft des guten Lebens.