Gedenken an Şehîd Xelîl Şen

Am 12.02.2021 beendete unser Freund Şehîd Xelîl Şen sein Leben indem er sich selbst am sächsischen Landtag in Dresden verbrannte.
Der heutige Tag ist seiner Erinnerung gewidmet: Der Erinnerung an ein Leben entschlossenen Kampfes bis zum Schluss, der Erinnerung daran, dass wir seinen Kampf weiter zu führen versprochen haben und der Erinnerung an Tausende wie ihn, die wir in diesem Kampf schon verloren haben. Auch ihrer gedenken wir heute, auch ihren Kampf führen wir weiter!

So sehr wir uns wünschen, Heval Xelîl hätte einen anderen Weg gesehen und könnte noch bei uns sein, so entschlossen werden wir den Kampf fortsetzen. Wir wünschen uns, dass die Selbstverbrennungsaktion von Heval Xelîl die letzte ihrer Art sein wird.

Im Folgenden dokumentieren wir den Redebeitrag des Ortskomitees von Women Defend Rojava und der Initiative für Frieden in Kurdisten bei der heutigen Gedenkfeier zu Ehren Şehîd Xelîl Şens:

Liebe Freund:innen, Liebe Genoss:innen, Hevalên heja,

Wir, das Dresdner Ortskomitee von Women Defend Rojava und die Initiative für Frieden in Kurdistan sind heute hier, um unserem Genossen und Freund, Xelil Şen, zu gedenken und unsere Solidarität und Anteilnahme auszudrücken. Wir wünschen Xelils Freund:innen und seiner Familie in diesen schweren Tagen viel Kraft. Wir trauern, um Heval Xelil und werden seinen Kampf weiterführen.

Xelil Şen wurde 1971 in Dih bei Sêrt geboren und lebte seit 25 Jahren in Deutschland. 1993 wurde das Dorf seiner Familie, die der kurdischen Freiheitsbewegung sehr verbunden ist, durch die Armee des türkischen Staates zerstört und verbrannt. 

Die Familiengeschichte der Şens ist geprägt vom kurdischen Kampf um Befreiung und Anerkennung. Zwei seiner Geschwister haben in diesem Befreiungskampf ihr Leben verloren. Die 85-jährige Mutter, bekannt als Mutter Sîtê, ist Teil der Friedensmütter in der Türkei, die für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage aktiv sind. Sie wurde nur wenige Tage vor Xelils Tod in der Türkei inhaftiert.

1996 floh Heval Xelil nach Deutschland, da es für ihn in der Türkei aufgrund der Repression gegen die kurdische Freiheitsbewegung nicht mehr sicher war. Vom ersten Tag seiner Ankunft an war Xelil Şen politisch für die Belange der kurdischen Gesellschaft aktiv. Insbesondere in den Städten Magdeburg, Leipzig und Erfurt setzte er seine politischen Arbeiten für die Kurd:innen und Kurden fort. Aber auch hier war Xelil Şen für sein politisches Engagement in Sachsen mit Repression konfrontiert. Infolgedessen wurde er für dreieinhalb Jahre in Deutschland inhaftiert. Doch auch das konnte ihn nicht davon abhalten, unermüdlich weiter für die Werte der Revolution einzustehen.

Wir gedenken heute seinem Leben und vor allem auch seinem Kampf. Sein Tod war ein politischer, sowie auch sein Leben ein Politisches war. Der kurze Blick auf Xelils Leben zeigt das große Leid, was den Kurd:innen im Nahen Osten und Europa angetan wird. Aber es zeigt auch den unerschütterlichen Willen und großen Mut, den Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit trotz aller Widrigkeiten weiterzuführen. Heval Xelil hat seinen Todestag nicht zufällig gewählt, sondern damit seinen Kampf für die Freiheit von Abdullah Öcalan nochmal unterstrichen. Abdullah Öcalan wird seit 23 Jahren ohne gerechten Prozess und unter unsäglichen Bedingungen in türkischer Isolationshaft auf der Gefängnisinsel Imrali gefangen gehalten.

Die Forderung nach Freiheit für Abdullah Öcalan, für die auch Xelil sein Leben gab, ist mehr als die Forderung nach Freilassung eines einzelnen Menschen. Sie steht für Frieden im Mittleren Osten, einer ökologischen Gesellschaft und radikaler Demokratie. Sie steht für eine geschlechterbefreite Gesellschaft, in der Krieg, Unterdrückung, Vergewaltigung und Feminizide keinen Platz haben!

Xelil beendete vor einem Jahr sein Leben, um für Beendigung der Isolationshaft von Abdullah Öcalan zu protestieren und Widerstand gegen das faschistische Regime in der Türkei zu leisten. In seinem Abschiedbrief schrieb er: „Tausende kurdische Frauen sind im Gefängnis. Dagegen rebelliere ich.“

Unsere Fassungslosigkeit über den Verlust Xelils und unsere Wut gegen die Umstände gegen die auch er kämpfte, sind genauso groß wie am Tag seines Todes – doch wir wissen, er hätte gewollt, dass wir den heutigen Tag kämpferisch begehen.

Wir sind vereint in diesem Kampf – in der Solidarität mit der kurdischen Freiheitsbewegung. Dieser Kampf beruht auf Ideen, die ein freies Leben für alle Menschen inner- und außerhalb Kurdistans ermöglichen: Eine ökologische und basisdemokratische Gesellschaft, in der alle Geschlechter frei leben können. Wir sind vereint im Kampf gegen die Zerstörung der Natur, gegen Gewalt an Frauen und LGBTIQ-Personen sowie gegen Völkermorde. Wir werden dem patriarchalen, imperialistischen, kolonialistischen und kapitalistischen System immer etwas entgegensetzen. Wir geben uns nicht zufrieden! Wir machen Alternativen denk- und lebbar!

Wieder fliegen und morden Erdogans Drohnen und Kampfjets, wieder versuchen türkische Soldaten und islamistische Söldner das Land einzunehmen, das in den letzten Jahren mühevoll und selbstorganisiert aufgebaut wurde. Der Krieg in Kurdistan hat jedoch nie aufgehört, denn jeden Tag sind Gefechte allgegenwärtig. Bomben und Drohnenangriffe sind immer noch tägliche Gefahr, Tausende ließen ihr Leben im Kampf für die Freiheit oder wurden vertrieben. Tausende sitzen in den Knästen dieser Welt, weil sie für die Freiheit einstanden und immer weiter einstehen!

Erst, wenn alle unsere Freund:innen und Genoss:innen frei sind, können wir alle wirklich frei sein. Doch die Zeit für Freiheit ist gekommen!

Wir werden den Kampf der kurdischen Befreiung, den auch Xelil geführt hat, weiterführen. 
Wir werden auch weiterhin einstehen für Frieden, Freiheit und Menschlichkeit. 

Wir werden nicht aufhören, jene zu bekämpfen, die uns und diese Ideale mit Füßen treten.

Die kurdische Befreiungsbewegung ist mehr als eine lokale Erscheinung. Sie ist eine Möglichkeit für uns alle – eine Möglichkeit, die wir gemeinsam leben und teilen wollen. 

Über die Grenzen hinweg stehen und kämpfen wir gemeinsam, auch in diesen erschütternden Zeiten. Sie werden uns niemals niederringen, das Leben von Xelil und allen anderen wird nie vergessen sein. Denn sie leben in uns und unserem Kampf weiter!

Sehid namirin!